Niedergesteln
DER STANDHAFTE SPION
Als die Oberwalliser die Gestelnburg monatelang vergeblich belagert hatten und die Belagerten
durch allerlei Trug- und Scheinmittel keine Hoffnung aufkommen liessen, dass die Besatzung an
Übergabe denke, anerbot sich schliesslich ein sehr unscheinbar aussehender Landsmann, sich
und alsdann den Belagerern Einlass in das trutzige Felsennest zu verschaffen. In stockfinstrer und
sehr stürmischer Nacht klopfte er, als Bettler verkleidet, am Burgtore an. Man liess den seltsamen
Fremdling ein in der Hoffnung, ihm wichtige Aufschlüsse über die Belagerer, den Stand der Dinge
im Lande und über etwaigen nahen Entsatz zu entlocken. Allein, der späte Gast gab auf alle
Fragen der Besatzung keinen Bescheid und glotzte die Fragenden wie ein Tölpel verständnislos
an; er schien taubstumm zu sein, Alles Schreien, alle Versprechungen und die schrecklichsten
Drohungen prallten wirkungslos an ihm ab.
Um sich aber gänzlich zu vergewissern, dass dieses Verhalten nicht Verstellung sei, liess der
Schlosshauptmann den Tölpel in die Folterkammer schaffen und ihm den Daumen der Rechten in
die Schraube legen und abschlagen. Auch das half nichts; das Klemmen, Pressen und Verkeilen
entlockte dem Spion nicht einen einzigen Schrei, der einem Wortlauf ähnlich gewesen wäre.
Man liess ihn schliesslich als ungefährlich und blödsinnig gehen und im Hundeloch am Tore
Nachtlager beziehen. Wie sich nun alles in der Burg in Sicherheit glaubte, steckte der
vermeintliche taubstumme Bettler einen in seinen Lumpen verborgen gehaltenen Spiess auf den
derben Bettelstab, stiess damit unversehens die Torwache nieder, öffnete das Tor und liess die
draussen auf das verabredete Zeichen harrenden Landleute herein. Bald war nunmehr die
Besatzung überwältigt und die Zenden Herren der Zwingburg. Nachdem die Überwundenen traurig
abgezogen waren, liessen die Landleute das Felsennest in Flammen aufgehen. Der kühne Spion
aber wurde als Landesbefreier gefeiert und reichlich belohnt.