Illustration David Zurbriggen
So jagte der geheimnisvolle Tross über die Brücke, nahm die alte Strasse und verschwand hinter
den Krümmungen, Felsen und Sträuchern des Feldwegs. Das letzte Pferd aber, eine blendend
weisse Stute, blieb einen Augenblick bei der Magd stehen und diese erkannten in tödlichem Streck
das Reitross ihres Herrn.
Aber mit keinem Sterbenswörtchen verriet die Magd, was sie gesehen
und erlebt hatte, da sie den Spott ihrer Meisterleute fürchtete.
Am folgenden Morgen um dieselbe Zeit wiederholte sich der seltsame Ritt und die Magd fasst mit
Aufwendung ihrer ganzen Willenskraft den letzten Reiter, der wiederum neben ihr hielt, fest ins
Auge und erkannte in ihm ihren Gebieter.
Nach ihrer Heimkehr in Leuk trat sie entschlossen vor den Herrn und fragte: "Herr, wo habt ihr
Euch heute in der Frühe aufgehalten? Ihr seid mir auf der Rottenbrücke begegnet." Dieser lachte
hell auf und erwiderte: "Um diese frühe Stunde lag ich noch ruhig im Bett." Da erzählte die Magd
alles haarklein und beschrieb aufs genauste den Mantel und die Kleider des letzten Ritters, die
auch ihr Meister an hohen Tagen zu tragen pflegte. Diesen fasste ob der Erzählung ein geheimes
Grausen und er sprach lächelnd zur Magd, teils um seine Furcht zu verbergen, teils um sich von
der Richtigkeit des Erzählten zu überzeugen: "Nimm morgen eine Schere mit und schneide dem
letzten Reiter einen viereckigen Lappen aus dem linken Mantelende, wickle ihn fest um die Schere
und bringe ihn mir her!"
Am dritten Morgen geschah wieder, was sich schon zweimal ereignet hatte und wie das letzte
Pferd neben der Magd anhielt, da zog sie rasch die Schere hervor, schnitt einen viereckigen
Lappen aus dem linken Mantelende, steckte in sorglich in die Tasche und kehrte eilig heim, ohne
das Vieh besorgt zu haben.
Ihr Meister aber erwartete sie schon ungeduldig und rief ihr zu: "Sind sie wieder erschienen?" Sie
aber reichte ihm statt aller Antwort den ausgeschnittenen Lappen hin. Er begab sich damit
wankenden Schrittes zur Kleiderkammer, wo der Ratsherrenmantel aufgehoben war und kehrte
nach kurzer Zeit weiss wie ein Leinentuch mit ergrauten Haaren aus der Kammer zurück. Noch am
selben Tage legte er sein Amt als Ratsherr nieder.