Leuk
DER GEISSHIRT IM VANOISCHI
Wie es manchem Geiss- und Kuhhirten gern passiert, so ist es auch dem Geisshirten im Vanoischi
beim Hüten ergangen. Den ganzen Morgen hindurch hatten ihm seine Schutzbefohlenen durch
ihre Widerspenstigkeit viel Zorn und Verdruss verursacht. Müde legte er sich nun während der
schwülen Mittagszeit unter eine weitästige Föhre, die Ziegen der Obhut seines Wachthundes
anvertrauend. Gegen Abend trieb er seine Herde wohlgemut gegen Leuk zu. Doch sein Frohsinn
schwand, als er im Geissstall in Leuk eine schwarze Ziege vermisste. Fast hätte es ihn gelüstet,
das verlorene Tier seinem Geschick zu überlassen; doch der Gedanke, dass die Ziege die einzige
Milchkuh eines armen Mütterchens war, bewegte ihn, sich noch am selben Abend auf die Suche zu
begeben.
Er durchirrte rastlos den im Dunkel liegenden Pfynwald und die gespensterhafte Felsschlucht des
Vanoischi, das verlorene Tier immerfort zärtlich bei seinem Namen rufend. Kein meckernder Laut
ertönte als erlösende Antwort. In aller Angst begab er sich in raschen Sätzen auf den Heimweg.
Da tauchte plötzlich mitten im Walde eine schwarzgekleidete Männergestalt auf, die dem
Fliehenden den Weg versperrte und ihm schweigend zu folgen winkte. Willenlos und gelähmt vor
Schrecken folgte der Geissbub der Erscheinung. Da plötzlich verschwanden Weg und Wald und
Felswand und der Geisshirt stand mitten in einer geräumigen Halle. An prasselndem Feuer wurde
gesotten und gebraten, finsterblickende Diener drehten den Bratspiess und feiner Bratenduft stieg
dem Geissbuben in die Nase, doch ihn gelüstete nicht nach dem feinen Schmause; hastig wollte er
durch eine gegenüberstehende Türe entweichen, doch er gelangte statt ins Freie in einen grossen,
matt erleuchteten Saal.
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